Exkurs: Vision aus 2003 zur künftigen Nutzung mobiler Dienste

Der nachfolgende Artikel wurde von mir im Oktober 2003 für das Magazin QUIP der Wirtschaftsjuioren Deutschland (WJD) in Mainz geschrieben und veröffentlicht.

Ziel war, eine Zukunftsvision für die Nutzung mobiler Technologien im Alltag zu skizzieren. Die dargestellten Szenarien hörten sich für die meisten Menschen damals utopisch an. Viele behaupteten, dass sie selbst wohl nie zur Anwendergruppe gehören würden. Für sie war nur die Telefonie und evtl. SMS relevant.

Das erste iPhone, und damit die Form der heutigen Smartphones, wurde erst 2007, also 4 Jahre später eingeführt. Der Apple App-Store folgte ein Jahr später.

Liest man den Text heute, beschreibt er für uns Gewöhnliches. Kaum zu glauben, dass wir uns unser heutiges Leben noch vor etwas über 10 Jahren nicht vorstellen konnten. Alle damals getätigten Prognosen sind fast ausnahmslos eingetreten.


Ein Tag in der Zukunft
Oder: Wie mobile Datendienste unser Leben verändern werden

von Wolfgang Groening, Oktober 2003

Frankfurt, 08:15.

Das Navigationssystem meldet die üblichen Staus im Rhein-Main-Gebiet und leitet den Pendler auf eine am heutigen Morgen etwas schwächer befahrende Nebenstrecke. Gleichzeitig warnt es ihn vor der Radarfalle hinter dem nächsten Ortsschild. Die in der vorigen Woche neu eröffnete Umgehungsstrasse ist dem System bereits bekannt und wird in die Routenplanung einbezogen.

Anmerkung des Autors 2016:
  • Google Maps inkl. Echzeit-Verkehrsmeldungen – etwa 4 Jahre später
  • Blitzer.de – etwa 8 Jahre später

London, 09:35.

Die U-Bahn-Fahrt zum Flughafen Heathrow verläuft ungewöhnlich störungsfrei. Der Geschäftsreisende hat in wenigen Clicks auf der Fahrt seinen Flug auf eine frühere Maschine umgebucht und ist bereits eingecheckt. Die verbleibende Zeit nutzt er zur Abstimmung seines Terminkalenders und zur Beantwortung der Emails. Seine Sekretärin im Büro verfolgt alle Änderungen an Ihrem Bildschirm und empfängt den diktierten Brief per VoiceMail.

Anmerkung des Autors 2016:
  • Smartphone-Apps der Airlines inkl. mobiler Bordkarte (z.B. Lufthansa) – etwa 5 Jahre später
  • Cloud-Services im Massenmarkt für Office-Dienste (z.B. Google Drive)- etwa 8 Jahre später
  • Messaging-Dienste inkl. Voice-Mail (z.B. WhatsApp etc.) – etwa 6 Jahre später

Prag, 11:10.

Zum Joggen durch die Strassen der tschechischen Hauptstadt hat sich die Studentin eine Mischung ihrer aktuellen Lieblingshits in Kombination mit einigen älteren Titeln zusammengestellt. Ihr Hörgenuss ist aktuell, legal und lizenziert, ohne dass sie jemals eine CD kaufen musste. Vom Display liest sie ihre Laufzeit und -geschwindigkeit, ihren Puls und Blutdruck, sowie die äußeren Bedingungen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Höhenmeter ab. Alle Informationen werden zeitgleich an ihren Trainer im Fitness-Studio gesendet, der bis zum Nachmittag auf Basis ihrer Tagesform ein Workout-Programm für sie zusammenstellt.

Anmerkung des Autors 2016:
  • Streaming-Musikdienste (z.B. Spotify) – etwa 4 Jahre später
  • Fitness-Applikationen (z.B. runtastic) – etwa 7 Jahre später
  • Messfunktionen im Gerät – Massenmarkt erstmals mit Einführung des iPhones, etwa 4 Jahre später
  • zum damaligen Zeitpunkt, noch vor iTunes, wurde Musiknutzung im Internet durch die Schallplattenfirmen stark bekämpft; wirklich legale Geschäftsmodelle gab es damals noch nicht
Budapest, 13:05.

Auf der Tastatur in seiner Hand tippt der Schüler einen Code ein, worauf der Getränkeautomat vor ihm eine Dose auswirft. Auf dem Display konnte er sehen, dass sein Taschengeld für diesen Monat bereits überwiesen wurde. Ein Portemonnaie oder Bargeld besitzt er nicht. Auf gleiche Weise bezahlt sein Bruder gerade beim Juwelier in der Fußgängerzone seine Verlobungsringe. Kreditkarten kann man verlieren, daher hält er sie für antiquiert.

Anmerkung des Autors 2016:
Split, 16:00.

Per Display folgt die Urlauberfamilie der Führung durch die engen Gassen der historischen Altstadt an der Adria. Neben den berühmten Sehenswürdigkeiten führt sie der elektronische Führer auf Wunsch der Familie auch an einer Apotheke vorbei, die gerade Bereitschaftsdienst hat. Bei der Auswahl des geeigneten Beruhigungsmittels für die Mutter vor dem bevorstehenden Rückflug hilft er als Dolmetscher. Zurück in den Straßen der Altstadt ergänzt der Vater den bisher gedrehten Urlaubsfilm durch einige Schnappschüsse in hoher Fotoqualität. Den Film sendet er direkt an den heimischen PC zur Nachbearbeitung. Den schönsten Schnappschuss ergänzen die Urlauber durch einige Grußworte und senden ihn per Email und als Postkarten an Freunde und Verwandte. Schließlich schaltet der Vater die Heizung im heimischen Haus per Tastendruck rechtzeitig zur Rückkehr ein.

Anmerkung des Autors 2016:
Amsterdam, 18:15.

In der Rush-Hour hat sich ein Unfall ereignet. Beim Zusammenstoß zweier Fahrzeuge wird ein Beifahrer leicht verletzt. Polizei und Rettungswagen sind noch nicht vor Ort. Per Video-Telefonie kann sich jedoch der Notarzt vorab schnell ein Bild von der Schwere der Verletzungen machen und geeignete Helfer und Material zum Unfallort, senden. Ebenfalls per Video-Telefonie verhört die Polizei die beiden Fahrer und nimmt die Personalien und Details zu entstandenen Schäden auf.

Anmerkung des Autors 2016:
  • Video-Telefonie (z.B. skype) – etwa 3 Jahre später
Zagreb Flughafen, 21:45.

Der Rückflug unserer Urlauber ist verspätet. Die Familie sitzt im Flughafengebäude. Der Vater verfolgt auf dem Display live per Internet-TV das Länderspiel. Der Sohn spielt ein packendes Strategiespiel online mit seinen beiden Freunden in den USA und in Polen. Die Tochter hatte sich ihre Lieblings-Soap in einem der zahlreichen TV-Kanäle angesehen, jetzt recherchiert sie im Internet nach den Biografien bedeutender slowakischer Schriftsteller für ihr Abitur. Und die Mutter?! Sie stickt ein paar Socken…

Anmerkung des Autors 2016:
  • Mobile TV via Phone – etwa 4 Jahre später
  • Netzwerk-Gaming war damals noch nicht verbreitet

Alle Protagonisten in den vorangegangenen Beispielen haben eines gemeinsam: sie besitzen alle ein kleines, mobiles Gerät, das landläufig als „Handy“ bezeichnet wird. Startet man heute eine Umfrage, was ein solches Handy ist und wozu es eingesetzt wird, werden die meisten Antworten wohl auf „Telefon“ und „telefonieren“ hinauslaufen. Einige werden auch Nachrichtendienste wie SMS und MMS erwähnen. Spricht man über die erweiterten Möglichkeiten der kleinen Geräte hört man oft: „Den Schnickschnack brauche ich nicht“ oder „Ich will nur telefonieren“…

Visionäre, wie beispielsweise der Gründer und Präsident der Digital Equipment Corp. Ken Olson sagte noch 1977 „Es gibt keinen Grund, warum jeder zu Hause seinen eigenen Computer haben sollte ( „There is no reason anyone would want a computer in their home“). Noch krasser klingt in diesem Zusammenhang die Aussage des IBM-Chefs Thomas Watson aus dem Jahr 1943: „Ich schätze, der Weltmarkt für Computer besteht aus etwa fünf Geräten.“ („I think there is a world market for maybe five computers.“). Eine Aussage über das Leben in der heutigen Welt, nur 25 Jahre später, wäre selbst für die kühnsten Visionäre unvorstellbar gewesen.

Viel weniger hingegen scheint es verwunderlich, dass wir danach streben, unser tägliches Leben einfacher, angenehmer, komfortabler und effizienter zu gestalten. Die Vorstellung Navigator, Reisebüro, Walkman, Straßenkarte und Atlas, Reiseführer, Camcorder, Digitalkamera, Chronograph und Messgeräte, unser gesamtes Büro mit Internet und Email, Kreditkarte und Geldbörse, TV und Jukebox, die gesamte Welt von Spiel, Film und Entertainment sowie eine Fernsteuerung für unsere Wohnung in einem kleinen, kompakten, mobilen Gerät zu haben, ist verlockend. Was viele noch nicht wissen oder glauben wollen: wir sind nur noch wenige Schritte davon entfernt.

Anmerkung des Autors 2016:
  • Ein wichtiger Schritt, diese Nutzungsänderung zu stimulieren, war die Einführung des iPhones im Jahr 2007 und vor allem des App-Stores.
  • Hierdurch wurden all die genannten Funktionen erstmalig einfach nutzbar.
  • Weitere Faktoren waren der Spieltrieb mit dem innovativen Gerät und die Exklusivität von Apple, die am Anfang noch als Statussymbol galt.

Keine Person in den eingangs geschilderten Beispielszenarien tätigt einen Anruf im herkömmlichen Sinne. Hieraus wird eines deutlich: In Zukunft wird die entscheidende Frage nicht mehr lauten, welches Gerät von welchem Hersteller man besitzt, sondern welche Dienste bietet der Anbieter für dessen Netz ich mich entschieden habe. Denn: bereits in naher Zukunft werden auch die mobilen Geräte austauschbar sein wie stationäre Computer. Endgeräte-Markführer Nokia und andere führende Hersteller treiben die Etablierung so genannter „Offener Plattformen“ voran, auf denen, ähnlich Microsoft Windows, Anwendungen der unterschiedlichsten Anbieter laufen können. Die Portale der Netzbetreiber, wie beispielsweise die „t-zones“ von Marktführer T-Mobile, bieten eine umfangreiche Übersicht über die bereits heute verfügbaren Dienste. Netzbetreiber werden zu Diensteanbietern.

Auf Grund umfangreicher Daten und zum besseren Erlebnis für den Anwender wird für viele Dienste ein mobiles Netz mit hoher Datenübertragungsrate benötigt. An dieser Stelle kommt UMTS ins Spiel. UMTS ist kein Selbstzweck sondern die technische Unterstützung für die unterschiedlichsten mobilen Anwendungen oder Dienste. Durch die Performance und die Geschwindigkeit von UMTS erst können viele dieser Datendienste dem Massenmarkt zugänglich gemacht werden.

Anmerkung des Autors 2016:
  • Damals wurde häufig in Frage gestellt, ob mobile Breitbandnetze überhaupt notwendig seien. Oft wurde kritisiert, dass es für die wachsende Technologie keine alltagstauglichen Anwendungen gäbe.
  • Damals wurde gerade das Mobilfunknetz der 3. Generation (UMTS) eingeführt. Heute ist die 4. Generation (LTE) bereits ein Standard, der bis zu 300fach schneller ist. Die 5. Generation steht in den Startlöchern mit einer nochmaligen Verzehnfachung der Bandbreite.

 

Fazit

Die Protagonisten der zu Beginn dargestellten Szenarien mögen alle das gleiche oder auch unterschiedliche, „Handys“ besitzen. Von größerer Bedeutung ist, dass sie auf ihre Geräte unterschiedliche, für sie interessante Applikationen geladen haben, die von ihren Netzanbietern mit den entsprechenden Diensten unterstützt werden. In anderen Worten: die Frage nach Möglichkeiten, Anwendungen und „Features“ liegt nicht mehr, wie bisher, im Gerät, sondern in erster Linie beim gewählten Netzbetreiber. Spätestens mit UMTS wird der Massenmarkt für mobile Datendienste vollends erschlossen. Auch heute schon sind mit neueren „Handys“ eine ganze Reihe interessanter Anwendungen möglich, deren Erprobung sich lohnt. Alles wird künftig jedoch nicht durch das Handy ersetzt werden können, wie die Stricknadeln der Mutter in unserem Beispiel.

Anmerkung des Autors 2016:
  • Erneut wird auf die Bedeutung und Benutzbarkeit der Applikationen („Apps“) hingewiesen. Sie waren der Schlüssel zur mobilen Nutzung des Internets auf für sie geeigneten Plattformen, den „Smartphones“.
  • Interessant ist, dass der Begriff „App“ damals noch nicht etabliert war.
  • Der Durchbruch gelang Apple 2008 mit dem ersten App-Store. Google folgte mit „Google Play“ für Android.
  • In der Zukunft werden die Apps und Bildschirme generell an Bedeutung verlieren. Die Interaktionen des Menschen im allgegenwärtigen Internet erfolgt künftig auf natürlichere Weise, z.B. durch die Sprache mit einem persönlichen, digitalen Assistenten.

 

Mit der Serie Zukunftsvisionen in diesem Blog möchte ich hieran anknüpfen. Technische Entwicklungen, die wir heute bereits kennen und einschätzen können, sollen dabei in den Alltag der Zukunft projiziert werden. Im Mittelpunkt steht der Nutzen für den Menschen, der ihm das Leben in irgendeiner Form vereinfachen, erleichtern oder bereichern soll.

Spannend wird dann sein, in zehn Jahren erneut auf diese Visionen zu schauen und zu sehen, was davon dann zu unserem Alltag gehört.

Mit visionäre Grüßen,
Wolfgang

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